Lebensferne Mengenangaben an Lebensmittelverbackungen

 "Die Industrie trägt eine Mitverantwortung dafür, dass Übergewicht zur Volkskrankheit geworden ist."

Die Industrie werde den Konsumenten weiterhin Informationen über die Inhaltsstoffe in den Lebensmittel vorenthalten, wenn sich die Konsumenten nicht selber auf die Füße stellten und vor allem in Brüssel Druck machten: Das sagt der stellvertretende Geschäftsführer der Konsumentenschutzplattform Foodwatch, Michael Wolfschmidt, im Gespräch mit ORF.at.

Wolfschmidt erinnert daran, wie sehr die bisherigen Angaben zu Inhaltsstoffen eine Mogelpackung seien. Viele Lebensmittel seien völlig überzuckert, nur erfahre kein Konsument, wie viel Zucker in den verarbeiteten Produkten ist.

ORF.at: Gibt die Industrie den Konsumenten überhaupt die Möglichkeit, sich richtig zu ernähren?

Wolfschmidt: Die Ernährungsindustrie trickst und täuscht ihre Kunden geradezu hemmungslos. Die Verwendung von Farbstoffen, Aromen und Geschmacksverstärkern wird entweder ganz verschwiegen oder zumindest schöngeredet, ebenso wie hohe Zucker- und Fettgehalte. Angebliche "Light"-Produkte liegen schwer im Magen, vermeintlich gesunde Kinderlebensmittel sind völlig überzuckert, und sogenannte Fitnessprodukte machen nicht fit, sondern fett.

Das ist leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ein Beispiel: Wer soll denn erwarten, dass die Frühstückscerealien mit dem schönen Namen "Fitness Fruits" zu mehr als einem Drittel aus Zucker bestehen? Die Industrie trägt eine Mitverantwortung dafür, dass Übergewicht zur Volkskrankheit geworden ist.

ORF.at: Warum genügen Ihnen und Foodwatch nicht die Kilokalorien- und Fettangaben, die ja mittlerweile auf beinahe allen Lebensmitteln enthalten sind?

Wolfschmidt: Die Frage lautet: Wer entscheidet, was wir Verbraucher über unsere Lebensmittel wissen dürfen und in welcher Form diese Informationen vermittelt werden? Wir meinen: Das sollten nicht die Hersteller sein. Denn alle Vorschläge, die sie uns unterbreiten, dürfen dem Marketing und dem Vertrieb nicht in die Quere kommen. Deshalb werden also freiwillig Nährwertgehalte in Relation zu einer empfohlenen Tagesmenge angegeben - diese Tagesmengen sind aber nicht etwa eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, sondern des Europäischen Verbandes der Lebensmittelwirtschaft.

Selbst auf Kinderlebensmitteln wird als Richtwert der Tagesbedarf eines Erwachsenen zugrunde gelegt. Zudem wird der Zucker- oder Fettgehalt künstlich kleingerechnet, weil sich die Angaben auf willkürlich kleine Portionen eines Produkts beziehen. Eine Portion ist dann zum Beispiel eine halbe Tiefkühlpizza oder eine Handvoll Kartoffelchips - das sind völlig lebensferne Mengen.

ORF.at: Wie viel Gramm Zucker sind durchschnittlich in einem Becher Fruchtjoghurt enthalten?

Wolfschmidt: Im Durchschnitt dürften das zwischen zwölf und 15 Gramm pro 100 Gramm sein. Die "Fruchtzwerge" von Danone zum Beispiel, die gezielt für Kinder hergestellt werden, enthalten pro 100 Gramm mehr als 14 Gramm Zucker. Die Ampel-Kennzeichnung würde das sofort entlarven. Bei "Fruchtzwergen" stünde sie in der Kategorie Zucker auf Rot. Den Verbrauchern zeigt das auf einen Blick, was tatsächlich in einem Produkt steckt.

ORF.at: Kritiker der Nährwert-Ampel berufen sich auf Studien, wonach sich eine Nährwert-Ampel auf Lebensmitteln überhaupt nicht auf das Kaufverhalten der Menschen auswirken würde. Würde statt der Ampel nicht eine Kennzeichnung genügen, die endlich konsequent den Anteil von Zucker und Salz u. Ä. anführt?

Wolfschmidt: Die Ampel ist kein Diätprogramm. Es geht dabei um Transparenz, um standardisierte und leicht verständliche Information über die Nährwerte. Wer zu fettigen oder zuckrigen Lebensmitteln greifen will - bitteschön. Aber erst durch die Ampel bekämen Verbraucher überhaupt die Möglichkeit, sich bewusst zu entscheiden. Eine solche farbliche Kennzeichnung würde sehr wohl etwas bewirken. Interesse der Industrie wäre es nämlich plötzlich, Produkte mit möglichst vielen grünen Ampeln herzustellen. Da dürften einige Rezepturen noch einmal überdacht werden.

ORF.at: Wie sehen Sie freiwillige Angaben der Hersteller? Bei Cerealien etwa haben unterschiedliche Anbieter den Grammanteil von Inhaltsstoffen wie etwa Salz und Zucker angeführt - und machen das werbetechnisch auch vorne auf der Packung deutlich: Hilft das dem Konsumenten oder sind die grünen Kleber auch Mogelpackungen?

Wolfschmidt: Es hat schon seinen Grund, welche Angaben die Hersteller vorne auf ihre Packungen schreiben. Nämlich solche, mit denen sie ihre Produkte als besonders vorteilhaft darstellen können. Wer mit besonders wenig Zucker wirbt, verbirgt oft einen hohen Fettgehalt. Und umgekehrt. Da werden Gummibärchen mit dem Hinweis "ohne Fett" beworben - dabei ist hier nicht der Fett-, sondern der Zuckeranteil das Bedenkliche. Solche freiwilligen Angaben gehören in die Rubrik Täuschung und Irreführung. Nur über eine verpflichtende, einheitliche und leicht verständliche Kennzeichnung können die Verbraucher die verschiedenen Produkte miteinander vergleichen.

ORF.at: Warum gibt sich die EU bei machen Fragen, etwa dem Salzgehalt von Brot, streng, ist bei anderen Fragen wie einer allgemeinen, detaillierteren Kennzeichnung der Inhaltsstoffe von Lebensmitteln säumig?

Wolfschmidt: Wie streng die Nährwertkennzeichnung wird, bleibt abzuwarten. Bislang kann die Industrie weitgehend tun, was sie will. Sie hat kein Interesse daran, die Menschen über die Zusammensetzung ihrer Produkte ins Bild zu setzen. Daher leistet sie massive Lobbyarbeit, um alle Informationsrechte abzuwehren. Die Verbraucher dagegen haben keine Lobby. Das wird sich nur ändern, wenn sie sich in Organisationen zusammenschließen und öffentlichen Druck ausüben.

 

Der Artikel stammt von der Webseite des ORF vom 08.02.2009.